Sprache und Moral
„Ein Schaumkuss-Brötchen, bitte!“
06.09.2023 | Von Christine Reith
Der Sommer geht zu Ende. Das Freibad hat letzten Sonntag das Wasser abgelassen, morgens um sechs ist es wieder dunkel und es gab schon die erste Kürbissuppe. Schade, es waren zauberhaft-unbeschwerte Wochen. Ein Thema hat mich durch diesen Sommer begleitet: Sprache und Moral. Wie kann ich Sprache so einsetzen, dass ich niemanden diskriminiere? Warum ist mir das überhaupt so wichtig? Und: Wie begegne ich Menschen mit dieser „Das wird man doch noch sagen dürfen“-Mentalität? In dem Buch „Eine Frage der Moral – Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ von Anatol Stefanowitsch (übrigens eine perfekte Freibadlektüre) finde ich Antworten und Denkanstöße.
Meine Tochter bestellt am Freibad-Kiosk ein Schaumkuss-Brötchen. Hinter mir: „Also als Kind durfte ich noch N~kussbrötchen sagen.“
Ich besuche einen Poetry-Slam auf der Landesgartenschau. „Der Dicke war richtig gut“, sagt anschließend meine Sitznachbarin.
„Leute, ich sehe aus wie vergewaltigt“, höre ich im Wellnesshotel einen Gast nach der Schröpfmassage sagen.
Ich spreche mit einer Bekannten über ihre Schulklasse. „Bei diesem ganzen Geschlechter-Kuddelmuddel hab ich ständig Angst, was Falsches zu sagen – das kotzt mich an.“
Ich begleite Jugendliche bei einem Teambuilding-Tag. „Boah, sieht voll behindert aus“, kommentiert ein Schüler seinen selbstgebauten Papierturm.
Fünf von vielen Situationen, bei denen ich in diesem Sommer hellhöriger geworden bin als sonst. Das lag sicher an unserem letzten DeepDive – so nennen wir Wortschätze unsere Abende, an denen wir uns intensiv zu einem bestimmten Thema rund um die Kommunikation austauschen. Im Juni ging es um das Thema Sprache und Moral.
Auf Petras Tipp hin hatte ich zuvor „Eine Frage der Moral – Warum wir politisch korrekte Sprache brauchen“ des Sprachwissenschaftlers Anatol Stefanowitsch gelesen. Ein kleines, schmales Bändchen, dass es in sich hat: Es ist ein großes Plädoyer für eine diskriminierungsfreie Sprache ohne Hasskommentare, sexistische oder rassistische Äußerungen und (interessant!) generisches Maskulinum. Ruhig, sachlich und nie belehrend zeigt Anatol Stefanowitsch auf, dass gesellschaftlich zwar Einigkeit darin besteht, Verrohung zu bekämpfen – zugleich aber eine diskriminierungssensible Sprache die Gemüter erhitzt.
Hier meine Haupterkenntnisse aus dem Buch:
Niemand möchte sprachlich diskriminiert werden. Also dürfen wir auch andere nicht diskriminieren.
Im Zentrum des Buchs steht die goldene Regel: „Stelle andere sprachlich nicht so dar, wie du nicht wollen würdest, dass man dich an ihrer Stelle darstellt.“ Oder positiv formuliert: „Stelle andere sprachlich so dar, wie du wollen würdest, dass man dich an ihrer Stelle darstellt.“ Dieser Perspektivwechsel ist für mich eine gute, einprägsame Hilfestellung. Niemand von uns möchte sich mit herabwürdigenden Bezeichnungen der eigenen Bevölkerungsgruppe konfrontiert sehen, niemand möchte unbenannt oder nur mitgemeint sein. Studien belegen, dass Menschen, die regelmäßig Ziel diskriminierender Sprache sind, beeinträchtigt sind. Unmoralische Sprache verhindert Glück und verursacht konkretes Leid.
Sprache verändert sich – und prägt die heutige Wirklichkeit
Sprachliche Bedeutungen verändern sich mit der Zeit. Im alten Griechenland zum Beispiel meinte der Begriff „Idiot“ einfach „Privatperson“, zugleich möchte niemand heute so genannt werden. Wenn man also als Kind N~kussbrötchen gesagt hat, muss das heute nicht mehr richtig sein. Schließlich lernen wir auch als Gesellschaft dazu, und es geht immer um die heute aktuelle Konnotation. Und heute wissen wir: Der Begriff Zigeuner für Sinti und Roma etwa wird – anders als Wiener oder Berliner – negativ konnotiert und zum Beispiel mit Gesindel und Diebstahl in Verbindung gebracht. Woher man das weiß? Einerseits, so Anatol Stefanowitsch, könne man dazu Korpora – also große Textsammlungen – befragen, zum Beispiel nach begleitenden Substantiven oder Adjektiven.
Menschen fragen, die es betrifft
Man kann auch einfach, und das ist für den Autor ein wichtiger Punkt und für mich ein echtes Learning, die Menschen fragen, die es betrifft. Die Sinti-und-Roma-Verbände sagen zum Beispiel übereinstimmend, sie möchten nicht Zigeuner genannt werden und Wörter wie „Zigeunerschnitzel“ nicht hören. Auch Organisationen Schwarzer Menschen in Deutschland sagen, das N-Wort sei diskriminierend. Oft äußern sich hingegen Personen der nicht-diskriminierten Gruppe, im Buch steht das Beispiel einer deutschen Bäckerin, die sagt: „Wenn man hundert Leute in der Stadt fragt, ist nicht einer gegen Mohrenköpfle.“ Klar, sie meint ja auch Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft. Schwarze Menschen hätten hier wohl mehrheitlich anders geantwortet.
Schon die Struktur unseres Wortschatzes ist nicht auf Gleichbehandlung ausgelegt
Richtig schmerzlich für mich war der Punkt im Buch, als die Lesenden zu einem Experiment aufgerufen werden: „Überlegen Sie kurz, wie viele beleidigende, abwertende Ausdrücke Ihnen für folgende Gruppen von Menschen einfallen, um die es häufig geht, wenn über politisch korrekte Sprache diskutiert wird.“ Dann führt er diese Beleidigungen auf – etwa für Frauen, Schwarze Menschen oder Personen mit Behinderungen. Die Listen sind lang. Anschließend fordert er auf, Schimpfwörter für das Gegenstück der jeweiligen Gruppe zu suchen – zum Beispiel für weiße Männer. Diese Listen sind minikurz. Das Experiment macht deutlich, dass es ein deutliches Ungleichgewicht bezüglich des abwertenden Wortschatzes zur Bezeichnung von diskriminierten Minderheiten und nicht-diskriminierten Mehrheiten gibt. Strukturelle Diskriminierung ist also fest in unserem Sprachgebrauch verankert.
Alternativen finden
Klar für mich ist: Ich möchte niemanden diskriminieren. Ich möchte eine gerechte Welt für alle, und Sprache ist ein wirkmächtiges Werkzeug, diese zu erschaffen – oder deutlich zu machen, dass ich solch eine Welt will. Genauso wie beim Gendern müssen wir uns dafür nicht verbiegen, denn oft gibt es einfache Alternativen wie eben das Wort „Schaumkuss-Brötchen“. Eine achtsame Sprache verhindert, dass wir „nebenbei“ Menschen verletzten und Gruppen abwerten. Das ist wichtig, denn abwertende Sprache ist oft ein Schritt hin zu abwertenden Handlungen. Mein persönliches Ziel nach diesem Sommer: Meine Texte sollen noch diskriminierungssensibler werden – und hier lerne ich täglich dazu. Zugleich möchte ich andere auf – vielleicht sogar unbewusste – Diskriminierung hinweisen. Denn, so Anatol Stefanowitsch: „Wer keinen Hass empfindet, wer nicht herabwürdigen will, für den sollte es selbstverständlich sein, sprachliche Ausdrücke zu meiden, die von anderen als hasserfüllt oder herabwürdigend empfunden werden.”
fraureith – Büro für Text und PR
Christine Reith
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